Kunsthandwerk im Colca Tal

Ein Gastartikel von Sabrina Železný.

Gastautorin Sabrina im Colca Tal

 

Früher Morgen am Aussichtspunkt Cruz del Cóndor im Colca-Tal, Südperu. Der Himmel ist blau, die Luft frisch, noch streift kein Sonnenstrahl die steinerne Plattform. Doch schon stehen hier erste Reisegruppen, die Handykamera im Anschlag. Während sie auf die Kondore warten, schlendern manche hinüber zu den provisorischen Souvenirständen.

Hier türmen sich Münzbeutel, Handtaschen und Brillenetuis in leuchtenden Farben, allesamt kunstvoll bestickt. Zwischen geschwungenen Ranken und stilisierten Blumen sitzen Vögel, Fische oder Lamas, eingerahmt von verschnörkelten Ornamenten. Auch gestickte Kondore finden sich ein ums andere Mal auf den Andenken.

Kein Wunder: Der Andenkondor ist die touristische Hauptattraktion des Colca-Tals. Die emblematischen Stickereien stehen ihm in Sachen Beliebtheit mittlerweile kaum nach. Es gibt sie längst in Souvenirgeschäften in ganz Peru zu kaufen.

Bestickt ist aber auch die Kleidung, etwa die der Verkäuferinnen: auf den Säumen der bodenlangen Röcke, auf Gürteln, Westen und Hüten. Aber sind es genau die gleichen Stickereien wie auf den Souvenirs? Welche Geschichten stecken dahinter?

 

Von Wolle und Webstühlen: Textilien im Andenraum

Dabei ist es nicht zu weit hergeholt, in den bunten Mustern mehr als Dekoration zu vermuten. Textilien und ihre Gestaltung spielen in den Anden seit vorspanischer Zeit eine wichtige Rolle. Das lässt sich schon wirtschaftlich zeigen: Im Inkastaat etwa war Tribut sowohl in Lebensmitteln als auch in Textilien zu leisten. So blieb es teils auch in der Kolonialzeit. Gerade in der Provinz Caylloma, wo das Colca-Tal liegt, waren neben Silber vor allem feine Stoffe gefragt. Das verraten uns Tributlisten aus dem 16. Jahrhundert.

Ebenso wichtig ist in den Anden seit jeher die Gestaltung der Textilien. Muster und Farben gaben häufig Hinweise auf den gesellschaftlichen Status – und die ethnische Zugehörigkeit. Letzteres lässt sich auch im Colca-Tal beobachten, und zwar nicht nur anhand der Stickereien.

 

Foto: Nora Teichert

 

Foto: Nora Teichert

 

Hüte im Colca-Tal: Cabanas und Collaguas

Wer im Tal unterwegs ist, bemerkt schnell, dass viele Frauen Hüte tragen. Dabei gibt es zwei Arten: Einerseits runde Stoffhüte, die ebenfalls bunt bestickt sind; andererseits weiße Strohhüte ohne Stickereien. Lokale Guides erklären den Unterschied und seine zumindest populär angenommene Herkunft: Noch bevor die Inka das Colca-Tal eroberten, lebten hier zwei ethnische Gruppen. Die Cabana siedelten im tiefergelegenen Teil des Tals, dessen Hauptort nicht von ungefähr Cabanaconde heißt; die Collagua im höheren Teil.

Beide Gruppen waren vermutlich aus dem Hochland eingewandert, unterschieden sich aber in mehrfacher Hinsicht. So sprachen die Cabana Quechua, die Collagua hingegen Aymara. Beide Gruppen führten ihre Herkunft auf einen bestimmten Berg zurück und deformierte ihre Schädel, um der jeweiligen Gipfelform zu ähneln: Während die Cabana ihre Schädel abflachten, pressten die Collagua ihre zusammen, damit sie schmaler und länglicher wurden. In der Kolonialzeit wurde diese Praxis verboten und soll durch die verschiedenen Hutformen ersetzt worden sein: weiße, zylindrische Hüte bei den Collagua und bestickte runde Hüte bei den Cabana.

So leiten es zumindest die Leute im Colca-Tal her. Heute gibt es die Cabana und Collagua nicht mehr als eigene Ethnien. Als augenzwinkernde Selbstbezeichnung hört man die Begriffe trotzdem ab und an. Zumindest im kollektiven Bewusstsein sind beide Gruppen noch präsent – und hier kommen wieder die Stickereien ins Spiel. Denn sie unterscheiden sich nach Cabana- und Collaguastil.

 

Foto: Nora Teichert

Foto: Stefan Büker

 

Foto: Stefan Büker

 

Foto: Stefan Büker

 

Leuchtend bunte Stickereien: Typisch für das Colca-Tal

Stickereien im Cabana-Stil benutzen etwa deutlich mehr Weiß, die Figuren sind eher länglich und gestreckt, die Ornamente (achoqchas) werden teils farbig gefüllt und Randbereiche mit Tieren verziert. So erzählt es etwa José Sano Sullca, Kunsthandwerker im Hauptort Chivay. Der Collagua-Stil hingegen verwendet ihm zufolge mehr Farben, füllt die Ornamente nicht aus und verziert die Ränder eher mit Pflanzen als mit Tieren.

Bedeutung hat diese Unterscheidung vor allem für die Kleidung der einheimischen Frauen. Bei der Produktion für den touristischen Markt scheinen die Grenzen langsam zu verschwimmen, wenngleich sie noch vor einigen Jahren durchaus eine Rolle im Bewusstsein der Kunsthandwerker spielten. Einen Cabana-Hut im Collagua-Stil besticken? Das verdirbt doch den ganzen Hut!
Gleichzeitig wurde einzelnen artesanos auch bei der Fertigung touristischer Produkte ein individueller Stil nachgesagt: Sie benutzten etwa bestimmte Farben oder Elemente quasi als Signatur. Wer sich auskannte, konnte also unter Umständen zuordnen, aus welcher Werkstatt im Tal der bunte Münzbeutel stammte.

Das Stichwort Werkstatt führt direkt zum nächsten spannenden Aspekt der Stickereien: Wenn diese Muster vorspanischen Ethnien zugeordnet werden, müssen sie ja verdammt alt sein – oder?

 

Foto: Sabrina Železný

 

Foto: Sabrina Železný

 

Foto: Sabrina Železný

 

Wie alt sind die Stickereien aus dem Colca-Tal?

Auch hier ist die öffentliche Wahrnehmung gerade unter den Kunsthandwerkern im Colca-Tal einhellig: Gern wird der Ursprung der Stickereien tief in der Vergangenheit verortet, mindestens bei den Inka.
Tatsächlich aber ist diese Einordnung mit Vorsicht zu genießen. Ein Grund dafür: Die Stickereien, wie sie gegenwärtig bekannt und beliebt sind, werden mithilfe von Nähmaschinen hergestellt: Durch das gezielte Bewegen des Stoffs unter der laufenden Maschine entstehen die typischen geschwungenen Linien. Rein handgestickte oder auch gewebte Muster unterscheiden sich hier deutlich.

Motorbetriebene Nähmaschinen gelangten allerdings erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ins zuvor recht isolierte Colca-Tal. Früher, so informiert das Museum in Yanque – einem Nachbarort von Chivay –, soll Kleidung auch von Hand bestickt worden sein. Die Kulturanthropologin Blenda Femenías gibt allerdings an, erst ab den 1930er Jahren überhaupt fotografische Belege für bestickte Röcke im Tal gefunden zu haben. Während ihrer Feldforschung fand sie nach eigener Aussage keine Familie, die das Stickhandwerk in den eigenen Reihen weiter als drei Generationen zurückverfolgen konnte.

Es gibt hier also einen spannenden Widerspruch: Auf der einen Seite werden die Stickereien des Colca-Tals durch die Einheimischen als enorm geschichtsträchtig wahrgenommen und ihr Ursprung weit in der Vergangenheit vermutet. Auf der anderen Seite gibt es die Muster in ihrer heutigen Form vermutlich erst seit knapp hundert Jahren, und ihre Entstehung hat mit Einflüssen wie der Verfügbarkeit von Nähmaschinen, aber auch Materialien zu tun: Zwar werden Stoffe und Fäden vereinzelt auch aus handgewebter Wolle gefertigt, eine wichtige Rolle spielen aber auch synthetische Wolle und Acrylgarn – die von außerhalb importiert werden.

 

Bestickte Kleidung und erfundene Traditionen

Ähnlich spannend sind die Motive selbst. Abgebildet werden vorwiegend Tiere, am häufigsten Vögel wie Kolibris (allein im Colca-Tal gibt es sieben verschiedene Kolibriarten!), Tauben oder Eulen. Ein weiteres populäres Motiv ist der Fisch – und nicht irgendein Fisch. Es ist die Forelle, sagen die Leute im Colca-Tal, »nuestra truchita«, unser Forellchen. Auch sie wird also als  charakteristisch für das Tal wahrgenommen … obwohl sie erst in den 1960er Jahren dort eingeführt wurde.

Sind die Stickereien am Ende nur eine Erfindung für den Tourismus und ihre Bedeutung eine gewaltige Lüge? Ganz so einfach ist es nicht. Schließlich finden wir sie nicht nur auf knallbunten Souvenirs, sondern eben auch in der Alltagskleidung vieler Frauen im Tal. Bestickte Hüte und Röcke werden auch dort getragen, wo sich selten Touristen hinverirren. Dort sind sie zwar nicht seit der Inkazeit präsent, aber doch seit mehreren Generationen.

Dass bestimmte Bräuche oder Gegenstände als enorm geschichtsträchtig wahrgenommen werden, obwohl sie vergleichsweise jung sind, ist gar nicht so selten. In den Kulturwissenschaften gibt es dafür sogar einen Begriff: invented traditions, also erfundene Traditionen (geprägt von Hobsbawm und Ranger). Solche Traditionen sind jung, werden aber bis weit in die Vergangenheit zurückprojiziert, sodass der Eindruck einer langen historischen Kontinuität entsteht. Dieses Konzept passt gut zur bestickten Kleidung im Colca-Tal.

Bei den Stickereien auf den Souvenirs liegt die Sache etwas anders. Denn sie verwenden zwar im Prinzip die gleiche Formsprache wie die Kleidung – bei näherem Hinsehen lassen sich aber durchaus Unterschiede feststellen. Damit sind die Stickereien auf den Andenken nicht so starr und unveränderbar, wie es für erfundene Traditionen üblich ist.

 

Foto: Nora Teichert

Foto: Nora Teichert

 

Foto: Nora Teichert

 

Foto: Nora Teichert

 

Foto: Nora Teichert

 

Foto: Sabrina Železný

 

Bestickte Souvenirs im Colca-Tal: Tradition und Innovation

So werden Farben und Motive verwendet, die auf der Kleidung nicht zu finden sind. Das beste Beispiel ist hier zweifellos der Kondor: Er ist nicht nur die touristische Hauptattraktion des Colca-Tals, sondern spielt auch eine wichtige Rolle im andinen Weltbild. Trotzdem taucht er lediglich auf bestickten Souvenirs für den touristischen Markt auf, nicht aber auf Hüten oder Rocksäumen.

Ziemlich sicher gibt es einen Zusammenhang zwischen dem zunehmenden Tourismus im Colca-Tal und dem Auftauchen des Kondors auf den bestickten Souvenirs: Kunsthandwerker und Händler im Tal richten sich nach den Vorlieben der Touristen. Und für die ist das Beobachten der Andenkondore ein klares Highlight ihres Besuchs. Warum der Kondor davor aber nicht auf der Kleidung abgebildet wurde, ist hingegen schwerer zu beantworten.
Möglicherweise gibt es es so etwas wie einen (unbewussten?) Kanon, welche für Tiere »passend« für die Darstellung auf der Kleidung sind. Wie bereits erwähnt scheinen das vor allem kleinere Tiere zu sein: verschiedene Vogelarten oder die Forelle.
Größere Tiere wie eben der Kondor, aber auch Lamas und Alpakas, finden sich hingegen nicht auf Kleidung. Auf Souvenirs aber sind es mit die beliebtesten Motive.

Sicher ist nur: Wer sich einen bestickten Münzbeutel, ein Brillenetui oder eine Handtasche aus dem Colca-Tal mitbringt, hält mehr in den Händen als ein farbenfrohes Andenken. Die leuchtend bunten Stickereien erzählen nicht nur von der beeindruckenden Landschaft, in der sie gefertigt wurden. Hinter ihrer Formsprache stecken Geschichten vom Brückenschlag in eine ferne Vergangenheit und der Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen – aber auch vom Einfallreichtum, sich selbst beständig neu zu erfinden und die Widersprüche zwischen Alt und Neu gekonnt aufzulösen.

 

Über Gastautorin Sabrina

Sabrina studierte Kulturanthropologie und Altamerikanistik. Sie ist viel durch Peru gereist und hat besonders viel Zeit in Arequipa verbracht. Aktuell ist sie freie Lektorin und Autorin und lebt mit vielen Plüschalpakas in Berlin. 

 

 

Vielen Dank an Sabrina für den interessanten Gastartikel. 

 

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